Ich hatte in den letzten Tagen viel Zeit zum Lesen, wenn es auch mit 1,5 Augen und Kopfschmerzen oben drin nicht so der wahre Genuss ist. Aber der Tucholsky Kurt, der gefällt mir, das konnte ich auch „halbtot“ noch einwandfrei feststellen. Der hat Biss. So einer müsste heute noch leben. Hah, das wär was! Die vielen lieben Gefälligkeitsschreiber und Pseudojournalisten der heutigen Zeit können da nicht im Ansatz das Wasser reichen.
Mittlerweile und viel zu schnell habe ich „Ein Pyrenäenbuch“ beendet und lese nun eine Auswahl an Artikeln und Aufsätzen aus dem Zeitraum von 1920 bis 1923. Obwohl schon so alt haben viele der Beiträge eine Frische und Gültigkeit über die Entstehungszeit hinaus, dass es die reine Freude ist. Mein Liebling bisher – „Dämmerung“. Eine Kostprobe:
„… Es ist durchaus nicht allen gemeinsam und selbstverständlich, daß das Vaterland das Höchste ist, woran sich anzuschließen Pflicht und Gewinn sei – sondern das ist sehr bestritten. Es ist durchaus nicht allen gemeinsam, daß die Familie der Endpunkt der Entwicklung und etwas Selbstverständliches sei – das ist sehr bestritten. Es ist durchaus nicht selbstverständlich, daß der Kapitalismus notwendig oder gar nutzbringend sei – das ist sehr bestritten. Sie reden verschiedene Sprachen, die babylonischen Menschen, und sie verstehen einander nicht. Sie sprechen aneinander vorbei, und sie haben weniger gemeinsam den je.
Seltsam dieses Bürgertum. (Und in Deutschland sind alle Bürger.) Seltsam dieses starre Festhalten an Formen, die leer sind, an Dingen, die es eigentlich nicht mehr gibt. Vorbei, vorbei – fühlt ihr das nicht?“
Aus Kurt Tucholsky, Dämmerung, 1920