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Am Tag bevor mir Frau Lh. starb, kam zu ihr ein Bereitschaftsarzt zum Hausbesuch. Ich hatte lange gezögert ihn anzufordern, denn ich wollte vermeiden, dass ein überforderter Orthopäde oder Frauenarzt, der eben zufällig gerade Bereitschaftsdienst hat, aus Angst etwas falsch zu machen oder um überhaupt etwas zu machen auf die Idee verfällt, die sterbende Frau ins Krankenhaus einzuweisen. Nichts finde ich schlimmer.

Es kam ein junger Arzt, mit dem ich noch nie zu tun hatte. Ich schilderte ihm meine Sichtweise, vier Rettungssanitäter standen um uns herum, von denen einer zustimmend nickte, die anderen schauten unbeteiligt. Zu meiner Überraschung stimmte mir der Arzt vollkommen zu und lobte beim Gehen ausdrücklich meinen Standpunkt in der Angelegenheit. Oft fände man in Pflegeheimen Pfleger, die aus Überforderung, aus Angst etwas falsch zu machen oder um überhaupt etwas zu machen sterbende Patienten ins Krankenhaus einweisen lassen wollten. Nichts fände er schlimmer.

Was anderes

Eine seit Sommer letzten Jahres herumliegende Bewerbung an eine Klinik vor ein paar Wochen endlich doch abgeschickt. Gleich wieder bereut und froh gewesen, dass sich niemand meldete. Dann meldete man sich doch: „Wir möchten Sie gern kennenlernen … “

Vorgestern lernte man mich kennen. Ich hatte mir eine Liste mit Fragen erstellt und im Gespräch abgearbeitet. Die Antworten sehr positiv. Selbst wenn ich nicht bei selber Qualifikation und Arbeitszeit ein paar hundert Euro im Monat mehr verdienen würde, wäre allein der Umstand eines geordneten und sinnvoll organisierten Arbeitsumfeldes ein Grund für den Wechsel. Vorgestern klärte ich also eine Reihe theoretischer Fragen, im Laufe des Aprils werde ich versuchen, mir aus praktischer Sicht ein Bild zu machen und dann entscheiden.

Warum jetzt ein Wechsel? Ich bin in einem Maße abgestumpft – wofür ich zwar im jetzigen Arbeitsalltag durchaus dankbar bin, sonst würde ich auf der Stelle wahnsinnig – was jedoch mit etwas Abstand und bei klarer Betrachtung absolut nicht mehr hinnehmbar ist. Gleichgültig, kalt und brutal ist man geworden. Ich kann meinen eigenen Landser-Jargon nicht mehr ertragen und ich habe den Eindruck, dass mir nicht mehr viel Zeit für meine Seelenrettung bleibt.

Einzig dem Rehäuglein habe ich von meinem Plan erzählt, nur nicht, dass sie der Grund ist, warum ich noch in der alten Firma bin. Es würde mir leid tun, sie aus den Augen zu verlieren.