Die Pandemie als Brennglas

In der NZZ ein wunderbar literarischer Artikel, ein Stimmungsbericht über das pandemiezerrüttete New York im Spätherbst. Eine gelungene Beschreibung unserer trostlosen Zeit:

New York, New York – die Krankheit weicht, die Kälte bleibt

Im Central Park ist das Grün der Bäume kahlen Ästen gewichen. Vor dem Rockefeller Plaza steht der grösste Weihnachtsbaum der USA. Und überall sieht man tote Ratten. Ein Spaziergang durch die pandemisch postpandemische Metropole.

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Seuchenliteratur

Rätselhafte Vorkommnisse häufen sich. Die Ratten kommen aus ihren Verstecken und sterben auf der Straße. Ein heimtückisches Fieber greift um sich, bald sterben die ersten Menschen. Die Stadt wird hermetisch abgeriegelt … Die Pest – von Albert Camus ist die perfekte Lektüre in dieser Zeit.

Beifang

Gedichte sind nicht so meins, ich bin ein prosaischer Typ. Dennoch klebt mir seit Tagen – so glaube ich – der Fetzen einer Gedichtzeile im Hirn. Der Versuch einer Suche im Internet führte zu nichts. Das heißt, ich fand etwas anderes. Auch schön.

Große Zeiten

Die Zeit ist viel zu groß, so groß ist sie.
Sie wächst zu rasch. Es wird ihr schlecht bekommen.
Man nimmt ihr täglich Maß und denkt beklommen:
So groß wie heute war die Zeit noch nie.

Sie wuchs. Sie wächst. Schon geht sie aus den Fugen.
Was tut der Mensch dagegen? Er ist gut.
Rings in den Wasserköpfen steigt die Flut.
Und Ebbe wird es im Gehirn der Klugen.

Der Optimistfink schlägt im Blätterwald.
Die guten Leute, die ihm Futter gaben,
sind glücklich, daß sie einen Vogel haben.
Der Zukunft werden sacht die Füße kalt.

Wer warnen will, den straft man mit Verachtung.
Die Dummheit wurde zur Epidemie.
So groß wie heute war die Zeit noch nie.
Ein Volk versinkt in geistiger Umnachtung.

Erich Kästner

Umbruchszeit

Lese seit einiger Zeit mit Gewinn »Die Besiegten« von Robert Gerwarth über die Zeit nach dem Ende des 1. Weltkrieges und die über den Waffenstillstand hinaus fortdauernden Gewaltexzesse besonders im Osten Europas. Die zerfallene Vorkriegsordnung, das dadurch entstandene Machtvakuum bzw. die aus Revolution und Niedergang geborenen schwachen Nachkriegssysteme als ideale Bedingungen für die Fortdauer der Gewalt. Viele spätere Entwicklungen werden durch die Beleuchtung dieser Zeit besser verständlich. Der Zerfall des Alten ist das eine, doch bis an dessen Stelle etwas stabiles Neues getreten ist, ist es ein langer Weg. Und wie dieses Neue dann aussieht ist noch eine ganz andere Frage. Durchaus sehr aktuell.