Herr ?

Traf beim Drüsenarzt meinen alten Biologie- und Chemielehrer aus der Abiturzeit. Fast unverändert: wirre Haare, schleppender Gang. Ob immer noch das olfaktorische Mundproblem besteht, blieb ungeprüft. Hat mich nicht erkannt nach zwanzig Jahren. Er verleidete mir damals erfolgreich die organische Chemie.

Einmal gab’s Krawall, weil wir mit den Mopeds über den Schulhof fuhren. GESCHOBEN WIRD! – steht in der Schulordnung. Das fanden wir albern. Ein anderes Mal, bei einer Wanderung im Plauenschen Grund, wollte ich ein Mädchen beeindrucken und schenkte ihr meine ganze Aufmerksamkeit. Er fand meine Prioritäten falsch gesetzt, zitierte mich nach vorn und hieß mich seine Rede wiederholen. Das konnte ich nicht.

Er sah vor zwanzig Jahren schon traurig aus, niemand von den Schülern hat ihn wirklich ernst genommen. Wahrscheinlich hat er das gespürt. Ich kann mich nicht mal mehr an seinen Namen erinnern. Weiß nur noch, er besaß damals einen schwarzen Pudel und wohnte auf der Paradiesstraße. Der Pudel wird tot sein, die Paradiesstraße gibt es noch. Ob er dort noch wohnt?

Klassentreffen

Heute Klassentreffen … – schon wieder. Zwanzig Jahre aus der Schule raus. Herrgott, wen interessiert das? Habe ich nicht nach dem letzten Treffen gesagt, ich gehe da nicht mehr hin? Kann mich nicht mehr erinnern, würde aber passen.

Ich fühl mich nicht gut. Eine Erkältung, diese lächerlich unmännliche „Erkrankung“, nagt an mir. Und noch etwas. Ich habe Komisches geträumt letzte Nacht. Ich habe einen Zwerg im Rollstuhl, der aussah wie Stephen Hawking, misshandelt, in spärlich beleuchteten Räumen, beobachtet von einem anderen diffusen Wesen ebenfalls in einem Rollstuhl. Den Traum schickte mir wahrscheinlich mein schlechtes Gewissen, von dem ich dachte, ich hätte es nicht.

Gestorben

Gestern früh ist ein guter Bekannter gestorben. Das Wort Bekannter trifft es nicht. Ich hab ihn seit meiner Kinderzeit immer Onkel genannt. Er ist mit mir in der Sächsischen Schweiz klettern und wandern gewesen als ich eine kleine Rotznase war. Er hat mich seinen Trabi fahren lassen, da war ich vielleicht 14. Er hielt einfach auf der Landstraße an und sagte, jetzt fährst du. Er hat mir gezeigt, wie man im Wald richtig Bäume fällt. Er hat mir gezeigt, wie man ein Schwein richtig schlachtet, wie man es ausnimmt und wie man die Borsten abbekommt. Er hat mir erzählt, wie sie als Halbwüchsige aus einem abgestürzten Flugzeug die Pistolen der toten Piloten klauten und damit im Wald herumballerten, bis der Förster kam. Er hat mir erzählt, wie ein Mann mit Frauen umgehen sollte. Er hat mir die Bedeutung von Loyalität vermittelt und vieles mehr.

Er war jahrzehntelang schwerer Alkoholiker. Aber das habe ich erst später begriffen. Dass er überhaupt so alt geworden ist, ist ein Wunder. In den letzten Jahren hat er kaum noch Schnaps getrunken, nur noch Unmengen Bier. Er hat das Rauchen aufgegeben, von heute auf morgen obwohl er bis dahin zwei Schachteln am Tag rauchte. Er sagte immer, man sollte ihn erschießen, wenn es so weit wäre. Er wollte dem pensionierten Schlachter sein Bolzenschussgerät abschwatzen. Jetzt hat er es gar nicht gebraucht. Vorgestern hat er sich gegen 22:00 Uhr ins Bett gelegt, um Mitternacht war er tot. Der ideale Tod für ihn.