Liebe

Ein altes Ehepaar im Heim. Sie vollkommen dement, unruhig oder apathisch je nach dem, kann nicht mehr laufen, kann nicht mehr sprechen. Er nach Schlaganfall stark eingeschränkt, kann auch nicht mehr laufen, hat eine Magensonde und nur noch ein Auge. Setzt man sie zusammen an den Tisch, begrüßt er sie mit Handkuss und hält mit ihr Händchen bis man sie wieder trennt, verabschiedet sich mit Handkuss und winkt ihr bis man mit ihm um die Ecke biegt.

Ich denke, sie erkennt ihn gar nicht mehr als ihren Ehemann. Ihm ist das wahrscheinlich bewusst – ich will ihn nicht danach fragen. Er sieht ihren vollkommen hilflosen Zustand und hält zu ihr. Er sieht, was aus der Frau, die er früher kannte, geworden ist und hält zu ihr. Das ist in etwa das, was ich mir unter Liebe vorstelle. Etwas ganz Großes, das weit über das verstandesmäßig Fassbare hinausgeht. Ich bin da entgegen meiner sonstigen Gewohnheit absolut kein Rationalist. Nur sagt mir meine Vernunft, dass die Wahrscheinlichkeit so etwas selbst zu erleben Nahe Null ist. Es ist einfach zu unwahrscheinlich.

Liebe, unnütze

„Die Leute sind zu Mitleid fähig für Krüppel und Blinde, man kann sagen, sie haben Liebe übrig. Das hatte ich schon früher gespürt, häufig sogar, dass sie Liebe übrig hatten. Gibt es riesig viel davon. Kann keiner sagen, dass das nicht stimmt. Schade nur, dass sie immer so gemein sind, die Leute, wo sie doch eigentlich Liebe übrig haben. Sie kommt nicht raus, das ist es. Sie steckt drinnen fest, und da bleibt sie, sie ist zu nichts nütze. Die Leute verrecken innerlich vor lauter Liebe.“

Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht